Sie ist wie ein federleichtes, durchsichtiges Blatt im Spätwinter. Was hält sie noch am Leben?
Jeder Atemzug kostet sie Kraft. Aus der Flasche trinkt sie wie ein kleines Kind. Ihre Finger sind dünn wie Zündhölzer; kaum sichtbar, oft unter der Bettdecke, hält sie ihren Rosenkranz.
Ein Blumenstrauss, von einem Mitglied der Kirche, ist auf dem Nachttisch. Sie hört Radio Vatikan, auf der farbigen Bettdecke liegt die Berner Zeitung. "Wie geht es Karl?", will sie wissen. In einer Stunde kommt die Spitex, inzwischen zweimal am Tag.
Ihr Gesicht erinnert an ihren Vater, meinen Grossvater. Ihre Stimme hat sich verändert, ist höher geworden. Auch mit dem Hörgerät hört sie nur noch, was sie hören will. Und sie schaut immer aus demselben Fenster, seit über zwei Jahren; einzig die Qualität des Lichts, vielleicht ein Blatt zeigt ihr die Jahreszeit an.
Schmerzen hat sie keine, schlimm, schier unerträglich sei die Müdigkeit, die Lebensmüdigkeit, vermute ich, die sie oft die ganze Nacht wachhalte, klagt sie. Nicht immer ist eine Schwester bei ihr, doch nie ist sie allein, ausser mit der Langeweile.
„La salade était bonne“, bedankt sie sich, die nur noch eine halbe Portion isst. Langsam, hartnäckig öffnet sie die Schachtel Praliné Noisette; die Chocolat Noir vergeht auf ihrer Zunge, (fast) wie im Himmel.
Drei Päpste, ein Abt, eine Nonne, ein Baby und ein Kruzifix hängen an der Wand. Die Familie steht im Büchergestell, ein Foto der Grossfamilie, in Farbe, was ursprünglich Schwarz-Weiss war. „Der Lindenhof“, sagt sie, sei ihr liebstes Haus gewesen; 1947, mit Grossmama war sie an der Heiligsprechung von Bruder Klaus gewesen, in Rom.
„Quel Amour!“, strahlt sie, als sie auf dem Bildschirm des iPhones, das sie nie hatte, Inya sieht. In den Augen der Katze erkennt sie ihre Seele, rede ich mir ein. Flüchtig entdecke ich Bahini. Die kleine Schwester, die sie tief ergriffen habe, unter den Observances des Soeurs Oblates de Saint François de Sales.
Was in der Welt passiere, will sie wissen, in Ecuador oder in Kolumbien, wo sie gelebt hatte; in Äthiopien, wo ihr Neffe ist; in Myanmar, wo ich war. Sie winkt ab, will eigentlich nur noch Gutes hören, weiss aber, dass die Welt anders ist.
Warten, worauf? Die Karte der Schwägerin leuchtet neben dem Wecker, der nicht mehr klingelt. Die Sakramente sind gespendet, die Nächte sind lang, das Warten ist zermürbend und das Beten der letzte, lebenslange Strohhalm. „Irgendetwas kommt danach“, sagt sie. Was nur, frage ich mich, wie sie vielleicht auch.
Eines Tages ist Primi aus Bolivien da und es ist, als schaue Lateinamerika in ihrem Zimmer vorbei. Sie hält ihre Hand, spricht fliessend Spanisch, will dies und das wissen, macht eine Zeitreise und lässt mich erahnen, dass die Zeit zeitlos, nur der Moment existiert, bestenfalls.
Früher war es das Gespräch, heute ist es die Stille und auch die Traurigkeit, die mich wie eine sanfte Wolke, wie ein Nebel umhüllt. Auf dem Stuhl neben ihrem Bett sitzend denke ich an die Briefe, die ich als Kind nach Quito geschrieben hatte; an die Rose, die sie unseren Kindern nach deren Geigenkonzert geschenkt hatte; an mein neues MacBook Air, das sie gesegnet hatte; an das Essen, das sie uns serviert hatte und das ihr heute von den Schwestern ans Bett gebracht wird; und dankbar erinnere ich mich an ihre Stimme, voll Charme und Güte.