Nieselregen

Weiss er was er sagt? Meint er was er sagt? Und weiss, ja will er, dass ich höre, was er sagt?
Nieselregen

Samstag, unterwegs im Zug von Olten nach Oensingen, irgendwann im November, es ist 18.39 Uhr. Rückwärts fahre ich, ohne Kopfhörer, Lilian sitzt vis-à-vis, niemand überprüft unsere Fahrkarten. Der Kirchturm von Hägendorf leuchtet, vertraut und einsam. Fünf Jungs, zwischen 13 und 17, alle von Kopf bis Fuss in Schwarz, mit kurzem Haarschnitt, ohne Tattoos, tauchen auf, im Gänsemarsch. „Juden vergasen!“, sagt einer im Korridor, nicht laut, meinem Sitzplatz jedoch nah genug, um gehört zu werden. 

Wie vom Blitz getroffen, schlagartig steigt mein Puls. Kein Zweifel, ich habe richtig gehört und sehe im Licht der Bahn, flüchtig nur, das dämliche Grinsen des Täters. Weiss er, was er sagt? Meint er, was er sagt? Sagt er das, was er gesagt hat, oft und immer wieder, vielleicht auch heute Nachmittag an einer Veranstaltung? Und weiss, ja will er, dass ich höre, was er sagt? Irritiert drehe ich mich um und schaue in die Fahrtrichtung, wo die Gruppe vor dem Ausgang nahe der Aufschrift Friedrich Dürrenmatt, 1921-1990, Stellung bezieht. 

Was tun? Noch fünf Minuten bis Oensingen. Lilian legt ihre Kopfhörer ab, was ist, fragt sie, da sie ahnt, etwas stimme nicht. „Juden vergasen“, flüstere ich, „hat der Schnösel gesagt“, heiser, ungläubig, schockiert. „Der hat nicht alle Tassen im Schrank. Wo sind wir hier eigentlich?“, als die SBB-Tonbandstimme den Halt durchgibt, was ganz anders, wie ein Warn- und Aufruf klingt.  

„Das geht nicht!“, gebe ich mich kämpferisch, mit einem Kloss im Hals. Ich habe Angst, mein Körper ist von Wut, Entsetzen, Befremden und Ekel ergriffen, als halte die Bande mich im Würgegriff, wie in einem Schraubstock fest. Ich muss etwas tun, sonst verliere ich mein Gesicht und kann morgen nicht mehr in den Spiegel schauen, auch beim Rasieren nicht, ahne ich. „Juden vergasen!“, ob dummer Hass oder böse Dummheit, mit Herzklopfen stehe ich auf, gehe an der Toilette vorbei und stehe vor dem Fünferpack, das mich zuerst verblüfft anschaut, dann verstohlen-hämisch grinst. 

„Bist du dir bewusst, was du sagst?“, ist meine Stimme aufgewühlt. „Übrigens machst du dich damit strafbar“, drohe ich, plump und ungeschickt, statt das Gespräch zu suchen. „Ach ja, wie ist denn die Nummer der Polizei?“, fragt der Rädelsführer, rotzfrech, zieht sein Handy aus der Tasche und hält es hoch, wie ein Banner der Veranstaltung, von der er vielleicht nach Hause fährt. Die vier anderen schauen mich an, wie ein Rudel Hunde, als der Zug verlangsamt, abbremst und die SBB anmahnt, in Fahrtrichtung rechts auszusteigen.  

18.55 Uhr, wir stehen bei der Bushaltestelle unter einer Lampe nahe dem Kiosk und warten, während die Typen vor der Treppe zur Unterführung rauchen. 1933, 1938, 1941, 1945, läuft ein Kurz-, ein Horrorfilm vor mir ab, ich bin in dem Streifen im Zug unterwegs in irgendein Kaff in Nazi-Deutschland. Hätte ich, damals, noch in den Spiegel schauen können? Unschlüssig, traurig betrachte ich den Nieselregen, im November 2023.